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 An einem hochsommerlichen Tag im Juli 1991 regnete es in Berlin-Mitte in
 Strömen, aber nur wenige Kilometer südwestlich war der Himmel klar.
 Dieses Stückchen Blau über einem kleinen Teil des ins Umland
 auslaufenden Berlins war ein Glückszeichen für die drei Dutzend
 Menschen, die sich zu einer kleinen Feier auf dem eleganten Gelände des
 Glienicker Schlosses mit seinen zum östlichen Ufer der Havel hin
 abfallenden Rasen- und Gartenanlagen versammelt hatten. Die Gäste
 schlenderten auf dem Rasen, nippten am Champagner und kosteten von den Tellern,
 auf denen sich Salate, Fleisch und Käse häuften. Sie gehörten
 zu der privilegierten Schicht Berlins - Professoren, Landschaftsarchitekten,
 Stadtplaner, Architekturhistoriker und Denkmalpfleger. Der Zweck des
 Zusammentreffens war, ein jüngst wiederentdecktes Gebäude in dem
 erlesenen Kranz von Schlössern und Herrenhäusern entlang der Havel
 willkommen zu heißen: eine schlichte, aber elegante Villa im
 italienischen Stil jenseits des Flusses, mitten im Blickfeld des Ortes, wo sie
 standen. Im besonderen waren sie gekommen, um auf den Studenten Dirk Heydemann
 anzustoßen, der vor kurzem durch seine Forschungen nachgewiesen hatte,
 daß der Garten hinter jener Villa die Schöpfung eines der
 berühmtesten preußischen Landschaftsarchitekten war - ein in den
 vierzig Jahren des Kommunismus verschütteter Schatz. Sie lauschten der
 Ansprache des Mentors, dann der des Studenten selbst. Man reichte Kopien seiner
 Arbeit herum, eine prächtig gebundene und illustrierte Geschichte des
 Hauses und seines Gartens nahe der berühmten Glienicker Brücke. Sie
 erfuhren von dem preußischen Hofmarschall von Schöning, der einst in
 diesem Hause lebte und von der jüdischen Bankiersfamilie, den Wallichs,
 die nach ihm kamen. Jetzt forderte die Familie Wallich die Villa am
 gegenüberliegenden Ufer zurück.
 An diesem Nachmittag hatte die versammelte Gesellschaft eine leicht
 verklärte Sicht auf diesen Teil der Berliner Havellandschaft. Wenn man ein
 wenig die Augen zusammenkneift, fühlt man sich weit zurückversetzt in
 die Tage der Hohenzollernherrschaft, als die stattlichen Häuser der
 Prinzen und die weiten, sich wellenförmig erstreckenden Gärten aus
 einem Guß waren, als Residenzen aus importierten Materialien gebaut und
 mit zurückhaltender Kultiviertheit ausgestattet wurden - eine italienische
 Marmorstatue hier, ein bißchen venezianisch-byzantinische Kunst dort. Man
 blinzle noch ein wenig mehr und jenseits des Wassers steht eine Villa des 19.
 Jahrhunderts, ein kleines glitzerndes Juwel des eleganten Potsdam, ein Heim
 preußischen Adels.
 Dies war die Wirkung eines romantischen Abstands von knapp zweihundert Metern.
 Hätten sie ihre Feier am gegenüberliegenden Ufer abgehalten -
 unmittelbar an der Villa -, hätten sie ein völlig anderes Bild
 gesehen. Sie hätten die Narben, die die jüngste Geschichte am Haus
 hinterlassen hatte, und die Vernachlässigung der vergangenen fünfzig
 Jahre gesehen. Sie hätten gesehen, daß der Putz abbröckelt und
 die darunterliegenden roten Ziegel freilegt, daß der Garten in keinerlei
 Hinsicht mehr königlich war. Ja, es gab noch die großartigen 150
 Jahre alten Bäume, aber nur wenige hatten überlebt. Und eine ziemlich
 armselige Ansammlung von verrosteten Spielplatzgeräten stand jetzt im
 Garten hinter dem Haus. Vor dem Haus hätten sie ein überwuchertes,
 schlammiges Ufer angetroffen - die Damen in ihren Pumps und die Herren in ihren
 blanken schmucken Schuhen - mühsam über große Betonbrocken
 kletternd. Die ähnelten Autobahntrennelementen, waren aber
 tatsächlich Reste der Berliner Mauer, die einst die beiden Ufer trennte.
 Nun lagen sie zertrümmert nahe dem Wasser zu Füßen der
 Glienicker Brücke, die wiederum selbst - wie die Mauerstücke auch -
 eine Inkarnation des Kalten Krieges war.
 Aber all das sahen sie nicht. Sie blieben sicher auf der anderen Seite des
 Flusses und sahen, was sie sehen wollten. Auf der Party bemerkten sie
 vielleicht doch zwei Frauen, die am Rand der Festlichkeiten standen, die eine
 war jung, dunkelhaarig und auffallend, die andere im mittleren Alter, mit
 Falten in ihrem verhärmten Gesicht. Vielleicht erkannten sie, daß
 diese zwei Frauen nicht ganz ins Bild paßten. Sie waren anders angezogen
 in ihrer einfachen, von keinem Maßschneider stammenden Bekleidung. Und
 sie verhielten sich anders. In ihren Händen hielten sie keine
 Champagnergläser und keine kleinen Dessertteller voller Delikatessen.
 Der Student, ein lächelnder junger Mann, dessen blasser Teint durch seine
 geröteten Wangen hervortrat, hatte diese Frauen nur beiläufig in
 seiner Ansprache erwähnt. Er dankte ihnen dafür, daß sie ihm
 während der Monate seiner Forschung Zutritt zum Garten gewährt
 hatten. Aber er nannte sie nicht beim Namen. Statt dessen waren sie die
 "Erzieherinnen am Kinderwochenheim". Kaum jemand beachtete seinen
 Dank. Aus dem, was er sagte, nahmen sie an, daß während der vierzig
 kommunistischen Jahre in Ostdeutschland, dessen Grenze genau in der Mitte der
 Havel verlief, die Villa irgend eine Art Einrichtung der Jugendfürsorge
 gewesen war. Vielleicht war sie es noch. Aber sie nahmen auch an, daß
 dieses Kapitel im Leben des Hauses - sicher ein Fehler - bald in der Geschichte
 verschwinden würde.
 Dirk Heydemann empfahl der Stadt Potsdam, dieses Haus in ein
 Dokumentationszentrum umzuwandeln. Die Bilder und Pläne in seiner Arbeit
 veranschaulichten, wie makellos Haus und Garten im Preußen des 19.
 Jahrhunderts gewirkt hatten und wie sie nach der Renovierung wiederum aussehen
 könnten. Es wäre seine große Hoffnung, so sagte er den
 Zuhörern, wenn die Nachkommen Hermann Wallichs helfen würden, das
 Haus wieder so herzurichten, wie es einmal ausgesehen hatte, und ihn in seinem
 Bemühen unterstützten, der Villa ihren früheren Glanz
 zurückzugeben.
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