»Kriech, großer Gott!«
Großmutter kommt schreiend auf die Treppe vors Haus gestürzt. Sie
vergißt, die rutschende Haarnadel festzustecken. Es hallt wider von allen
vier Wänden: »Krie-ie-ich!«
Der Hof hinterm Mietshaus ist klein. Die Ziegelmauer begrenzt ihn zur Linken.
Der Schrei kehrt zurück von der Mauer mit den Türen zu den vier
Ställen, von der rechten Wand mit dem Scheunentor des Ackerbürgers
Ewald, aus dem an den Dreschtagen der ganze Dreck auf Großmutters
Wäsche fliegt. Auch die vierte, die Hauswand selbst mit dem
bröckelnden Sims unterm Fenster weist Großmutters Schrei
zurück: »Nu hem'w Kriech.«
Großmutter vergißt reinweg, daß mit dem Kind hochdeutsch
gesprochen wird. Sie übersieht: Außer ihr ist nur die Erzfeindin
Anna, mit der nicht geredet wird, auf dem Hof. Die Nachbarin Anna lahmt.
›Uns lew Herrgott‹ hat sie gezeichnet.
»Kriech mit England, großer Gott!«
Lore sieht in den blauen Septemberhimmel. Sie ist fünf. Dort oben wohnt der
liebe Gott mitten im »Engelland«.
All die Tage später denkt Großmutter wieder daran, die Haarnadel im
dünner werdenden Knötchen festzustecken. Sie segnet das Brot, ritzt
rasch drei Kreuze auf seinen Rücken, bevor sie es anschneidet und ruft das
Kind, das wieder nicht hört.
»Wat spökt dat Mäken in de Weltgeschicht ümher!«
Großmutter geht vors Haus, diesmal zur Straßenseite hin, denn den
Hof hatte sie ja vergeblich im Auge.
›Dat Mäken‹ ist wieder hingegangen, wo sie nicht hingehen
soll: auf die Straße.
Gegenüber der alte Birnbaum hinterm Lattenzaun, vorm Haus die
Abflußrinne für das Schmutzwasser. Es stinkt in der Sonne.
Die alte Frau steht auf der obersten Stufe, einer Schwelle aus Holz. Die kippelt,
sobald jemand darauf tritt. Großmutter legt die Hand zum Schutz gegen die
Sonne über die Augen und ruft.
Lore sitzt am Bahndamm im Gras. Die Kamille blüht und die Schafgarbe.
Züge rollen, das Mädchen wartet auf den Vater, wenigstens auf einen
von beiden. Wenn der wirkliche Vater wirklich kommt, wird Großmutter noch
einmal die feinen, hauchdünnen Tassen mit dem schmalen blauen Rand aus dem
Vertiko holen.
Oder hat es auch diesen einen einzigen Tag mit dem Vater nie gegeben? Hat er nie,
kein einziges Mal, auf dem Stuhl mit der rohrgeflochtenen Lehne vor der
dunkelgrünen Tapete, auf der Damen mit Sonnenschirmen spazieren, gesessen,
bevor er ›gefallen‹ ist, gestorben und verdorben vor lauter Krieg?
Hat Lore nur geträumt, wie er sie an diese seltsamen Orte schleppte: auf
den Jahrmarkt, ins Kino, in die Kirche? Von den bemalten Scheiben konnte sie
Geschichten ablesen: grausam und schön. Gelb schimmerten Himmel und
Bäume dahinter und leuchteten wie das Flugzeug, das vom Himmel fiel und
brannte.
Eine Orgel stürmt und braust. Großmutters Stimme steigt daraus auf:
»So nimm denn meine Hä-ände...«, und nun ein Tremolo,
damit es besonders schön wird, weil es so ein besonderer Tag ist,
»... und führe mich!«
Großmutter trägt das neue braune Seidenkleid mit dem Jabot aus
cremefarbener Spitze. Tante Lilli hat Hochzeit und ist eben was Besseres
geworden.
»En Baumeister hätt se heirotet, 'n fienen Minschen.«
Soetwas hat Großmutter für ihre Kinder gewollt:
›was Besseres!‹
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