Andreas Fritsche, ND
Vivianne Schnurbusch, MAZ
Gerold Paul, PNN
In einem schnörkellosen Stil verfasste Manfred Richter die
packende Erzählung "Jakobs Augen". Sie fußt auf den
Lebenserinnerungen von Klaus Mudlagk. Mit ihm hat der Schriftsteller viele
Gespräche geführt. Klaus Mudlagk arbeitete bis 1990 als Dreher, baute
seiner Familie ein Eigenheim und war ab 1991 erwerbslos, absolvierte mehrere
Umschulungen. Er bekam Lungenkrebs und starb im Mai 2004. Hinterlassen hat er
Aufzeichnungen mit dem Titel "Wege zum Selbstvertrauen". Zwei Kapitel
daraus sind Richters Erzählung beigegeben. Der Vergleich der Texte erlaubt
einen Einblick in die Arbeitsweise des Autors. So fährt der schon fast
vollständig erblindete Mudlagk eines Tages einen anderen Radfahrer
über den Haufen. Ihm ist sofort klar, dass er den eigenen Vater erwischt
hat. Bei Richters Jakob stellt sich dies erst daheim heraus, als der Vater
kommt und ihm wütend eine Ohrfeige verpasst. So gibt es eine Pointe, die
in einer rührenden Szene gipfelt, denn der Vater bemerkt erst da, wie
schlimm es um seinen Sohn inzwischen bestellt ist. Das Buch zeigt, was
Literatur im Idealfall leisten kann: Eine Beschreibung der Wirklichkeit mit den
Mitteln der Fantasie, die schließlich echter wirkt und wahrhaftiger ist
als ein Dokument. Dass man sich die Erzählung auch gut verfilmt vorstellen
kann, ist sicherlich kein Zufall. Der an der Babelsberger Filmhochschule
ausgebildete Szenarist Manfred Richter arbeitete viele Jahre als fest
angestellter Drehbuchautor beim DEFA-Studio für Spielfilme.
Andreas Fritsche, ND, 15.12.2008
Die Sprache des Autors erfasst mit anmutiger Präzision die Sinneswelt der
Hauptfigur Jakob. Der Junge Jakob erblindet durch ein Augenleiden bereits als
Schüler und kommt auf die Internatsschule für Blinde und Sehschwache
Schüler in Königs Wusterhausen. Dort erlebt er einerseits die ganz
normalen Verrücktheiten, mit denen Pubertierende sich herumschlagen
müssen: Ärger mit Regeln, die Entdeckung des anderen Geschlechts und
so vieles mehr - doch das alles geht einher mit dem Verlust seiner Sehkraft.
So haben Sätze wie "Ihre helle Stimme (wird) dunkel und leise",
"Ihre Kleider rascheln wie die Programmhefte im Theater" oder
"Am kühlen Luftzug spüre ich, wie sich der Vorhang
öffnet" eine unvermeidbare Tiefenwirkung auf das Publikum. Zur
Vermeidung von allzu viel Betroffenheit mischt der Autor eine
beträchtliche Portion derber Komik hinein, die erfrischend daherkommt: Im
Theater fragt Jakob seinen Freund, ob Julia schön sei.
"Bestimmt!" raunt er. Ich kichere. "Du guckst ja selbst
bloß so weit wie'n Schwein scheißt!"
Manfred Richter hat im Aufrag des Märkischen Verlags Wilhelmshorst die
Geschichte über den blinden Jungen Jakob geschrieben. Der Verlag hatte das
Manuskript der autobiografischen Aufzeichnungen von Klaus Mudlagk erhalten, die
jedoch etwas "spröde" gewesen seien.
In Gesprächen mit Mudlagk und gemeinsame Reisen an die verschiedenen Orte
der Geschichte habe er sich dem Stoff angenähert, berichtete der Autor.
Dennoch - oder gerade deshalb - löste die Betroffenheit der Anwesenden
eine Diskussion über den Wahrheitsgehalt der Geschichte aus. Vielleicht
waren die Wortbeiträge als ein Spiegel zu verstehen auf die vom Autor
äußerst gefühlvoll vorgetragenen Erfahrungen einer fiktiven
Person, die sich der Welt stellt mit all ihren schönen und traurigen
Seiten. Der Spiegel sagt: Auch wir - Nichtsehende oder Sehende - suchen unsere
Wahrheiten in dieser Dunkelheit.
Vivianne Schnurbusch, Märkische Allgemeine Zeitung, 17.01.2006
Die Bücher des "Märkischen Verlages" Wilhelmshorst sind
oftmals so spannend wie ihre Entstehungsgeschichte. War schon die letzte
Neuerscheinung "Frühes Licht und späte Schatten" mit fast
abenteuerlichen Umständen rund um Baumgartenbrück verbunden, so hat
auch "Jakobs Augen" eine für Außenstehende ganz
ungewöhnliche Genese. Das am Sonnabend im Stadthaus präsentierte Buch
schildert die "Lebenslinien" von Klaus Mudlagk.
Nach dem Verlust seines Augenlichtes beginnt sein ungewöhnliches Schicksal.
Im Rahmen der Blindenbetreuung lernt er zuerst, sich selbständig
zurechtzufinden, dann den Beruf eines Korbmachers, um später in mehreren
DDR-Betrieben als Dreher zu arbeiten. Ein Willensmensch sondergleichen: Er fuhr
mit dem Fahrrad, bestieg sogar die Alpen, baute mit Freunden sein eigenes Heim,
gründete eine Familie. Seit 1991 dann tragischerweise arbeitslos, schrieb
er seine Geschichte auf. Sie kam in die Hände des Verlags-Chefs
Klaus-Peter Anders, welcher sie dem Schriftsteller Manfred Richter gleichsam
"zur literarischen Bearbeitung" übergab. So entstand, auf
authentischer Grundlage, ein flott und sicher geschriebenes Buch über
Jakob, der auch ohne eigene Sehkraft sein Leben zu meistern versteht.
Manfred Richter las einige Kapitel seines Buches – der hinreißenden
Liebesgeschichte des 16-jährigen Ich-Erzählers – selbst, von
Jakobs Bildungsreise nach Weimar und wie der aufgeweckte Bursche ein
Babykörbchen für seine schwangere Schwester Monika flicht. Man musste
nicht einmal nur schmunzeln, denn der Text ist so leicht geschrieben, dass man
die Probleme dahinter kaum auf Anhieb bemerkt. Es ist gerade so viel
DDR-Kolorit dabei, wie man braucht, um die Geschichte von Jakob, seiner
liebessüchtigen Freundin Susann und die Ehetragödie um Vater und
Mutter zu verstehen. Als seine Augen erlöschen, verspricht er ihm fest:
"Papa, ich schaff das schon!" Irre genug, wenn dann zwei
minderjährige Burschen kurz vor der Mauer nach Westberlin türmen,
Jakob aber selbst von seinem Freund Ritchi verlassen wird. Eine wundervolle
Geschichte, die man nicht Blinden nur empfehlen sollte, sondern aller Jugend
von heute. Sie ist so warm, so schön geschrieben. Sie hat ein so
berührendes Finale. Toll.
Gut jedenfalls, dass es dieses Buch gibt. Den Blinden wird es Ermutigung sein,
"dass man es schaffen kann", den anderen pure Freude.
Gerold Paul, Potsdamer Neueste Nachrichten, 17.01.2006
|